Jahrestreffen 2011 in Antwerpen
Nach dem Kongreß in Berlin fand auch dieses Jahr wieder unser ‚kleines‘ Treffen in Antwerpen statt.
26. EWMM Jahrestreffen in Antwerpen: 20./21. Mai 2011
Dieses Jahr begannen wir – warum kommt am Schluß – früh & brav schon um 9c.t.
Wie üblich wurden die eintrudelnden Teilnehmer vom Hausherren mit einer losen Zusammenstellung von Kasuistiken willkommen geheißen. Einige Punkte blieben in Erinnerung:
- Falsche Ausrichtung der Patienten und unpräzises Visieren ’simulieren‘ manchmal massive Befunde, die sich beim genauen röntgen in Luft auflösen.
- Gerade bei Jüngeren kann man auch radiologisch-funktionell die klinische Besserung nachvollziehen
- Die Dialektik von Form und Funktion wurde an mehreren Fällen erläutert: wenn eine Fehlfunktion lange genug besteht hat das Auswirkungen auf die sich entwickelnde Morphologie.
Das erste ‚echte‘ Referat war dann Bettina Küsgens Erläuterung, wie man als normale Orthopädin mit der Manualmedizin, und dann mit der Manualmedizin bei Kindern erst in Berührung und dann zurecht kommt. Sie zeigte schön, wie verschiedene Partner einer Problematik (Kinderarzt, Eltern, Orthopäde) diese auch ganz anders wahrnehmen. Am Beispiel Skoliose entbrannte dann eine sehr engagierte Diskussion, wobei wir uns einig waren, dass dieses Krankheitsbild eine weit über die reine Biomechanik hinausreichende Problematik darstellt.
Dann berichtete Dierk Schwender, Anaesthesist aus München (Lehre) / Friedrichshafen (CA) über seine Forschungsergebnisse aus dem Übergangsgebiet zwischen bewußter und unbewußter Wahrnehmung. Bei Narkosen sind wir mit dem Problem konfrontiert, dass ein Teil der Patienten nach dem Erwachen durchaus Details aus dem OP erinnert, wenngleich die Zahl derjenigen, die dies als schmerzhaft empfanden, deutlich geringer ist.
Da doch etliche von uns zumindest früher auf der anderen Seite des Vorhangs gestanden sind war diese Rekapitulation der OP- Situation sicher nicht nur für mich sehr lehrreich.
Er berichtete, dass Patienten nach der Op erzählten, wie sie ‚alles hörten, aber völlig kraftlos waren, fürchterlich entsetzt, aber ohne Schmerz‘.
Auf einer Skala von 1 (Bewußtsein mit Schmerz) bis 5 (keinerlei Erinnerung) kann man diese Phänomene erfassen. Interessant dabei war, dass alle auditive Erinnerungen angaben, aber nur ein kleiner Teil (11 von 45) Schmerz. An evozierten Potentialen konnte er schön zeigen, dass man dies auch objektivieren kann, was auch hilft, die Wirkungsweise verschiedener Anaesthetika zu differenzieren.
Nach der Mittagspause leitete Marcel Butti die Referate mit einem Hinweis auf Kleists „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ unsere Betrachtung der Gedanken ein. Schwerpunkt war dann das Referat von Onur Güntürkün, Ordinarius Biopsychologie aus Bochum, der sich mit der Frage beschäftigte, „Wie Gedanken entstehen“. Dabei ging er aus vom bekannten und experimentell Belegbaren aus, um, darauf aufbauend, seine Vorstellungen zu diesem Thema darzulegen.
Nach diesem Höhenflug in den Regionen der Hirnforschung kamen wir wieder zu unserem Kernthema, nämlich der Frage, „Was machen wir Manualmediziner?“, wozu Biedermann vortrug.
Ausgangspunkt war ein Zitat Gutzeits, der die Rolle der Wirbelsäule so umschrieb:
- Initiator
- Multiplikator
- Provokator
- Lokalisator von Krankheitserscheinungen
Erst wurden Manualtherapie und Manualmedizin gegenübergestellt. Beide sollten sich idealerweise ergänzen, wobei letztere den konzepionellen und diagnostischen Rahmen liefert, in dem dann beide agieren. Leider scheitert diese ideale Arbeitsteilung nicht selten an Kommunikations- und Kompetenzproblemen. Er betonte, dass eine auf den Patienten ausgerichtete Manualmedizin immer individuell und kontextsensibel arbeitet und sich dadurch gegen EBM- Kriterien stemmt, die ja eine fast industriell reproduzierbare Behandlung voraussetzen. Ein weiterer Schwerpunkt des Referates war die Einbettung des behandelten Individuums in sein Umfeld und dessen Einflußnahme auf den Verlauf der Therapie. Das ‚Spielen auf mehreren Instrumenten‘ wurde kasuistisch erläutert. Es muß nicht immer manipulativ vorgegangen werden…
Der Letzte Punkt war dann der Hinweis – auch dies wieder kasuistisch erläutert – das eine präzise arbeitende Manualmedizin durchaus auch eine Erstverschlechterung nach sich ziehen kann. Gerade in diesen Fällen ist eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Arzt und Patient unverzichtbar. Sonst ist es fast unmöglich, den oft in Panik geratenden Patienten (oder seine Familie) vor unnötigen und letztlich die Dinge noch mehr irritierenden Therapieoptionen zu bewahren.
Im besten Falle schaden diese nichts und die nach der Krisenphase einsetzende Besserung wir dann den zwischenzeitlich durchgeführten Therapien zugeschrieben.
Im ungünstigen Fall kommt es aber durch diese zusätzlichen Irritationen zu weiterer Verschlechterung, die dann allerdings meist der Erstbehandlung angelastet werden.
Die drei Aspekte
- Interaktion Funktion ↔ Morphologie
- Polykausalität und schließlich
- der psychosomatische Aspekt des Be-‚handelns‘
machen die Komplexität und auch die Effizienz der Manualmedizin aus.
Lutz Koch berichtete dann über seine Erfahrungen bei einem Seminar für Kinderärzte. Für ihn war dabei interessant, dass KiSS weiterhin kontrovers diskutiert wird, aber z.B. Die Rolle der Wirbelsäule beim Kopfschmerz doch schon recht akzeptiert ist bei den pädiatrischen Kollegen. Er erzählte, wie er durch die Behandlung der Teilnehmer selber mehr Verständnis für die Manualmedizin wecken konnte. Sicher immer noch ein langer Weg….
Der Tag klang aus mit einem Referat Peter Hörters, der nächstes Jahr die logistische Seite unseres Treffens übernimmt, das dann nach langen Jahren mal wieder außerhalb Antwerpens stattfindet. Zu diesem Treffen in Apulen am 20.-24.März 2012 siehe (xxx).
Am Abend waren wir dann in gewohnt exzellentem Rahmen und ebensolcher Küche im ‚Marcel‚, dies zu fachlichen und nicht- fachlichen Plaudereien nutzend.
Vorher besuchten einige noch das neue MAS (Museum Aan de Stroom), in dem Stadtgeschichte, Ethnologiemuseum und die weltbekannte Sammlung präkolumbianischer Goldarbeiten von Dora Jansen ausgestellt werden. Abends kann man bis Mitternacht bis aufs Dach gehen und von dort einen atemberaubenden Blick über die Stadt genießen.
Der Samstag begann wieder mit Biedermanns Lumpensammler, also einigen Kasuistiken zum Einstimmen auf den Tag. Es wurden einige Fälle anhand von Fotos und Röntgenbildern erläutert.
Daran schloß sich eine kontroverse Diskussion zum Thema „gastroösophagealer Reflux bei Kindern im Alter bis zu einem Jahr“ an. Es wurde berichtet, daß es je nach Region zu teilweise erheblichen Raten an Diagnosestellungen und entsprechender Therapie gebe.
Johannes Frey hat zusammen mit seinem Bruder Ulrich das Buch ‚Fallstricke‘ veröffentlich, das auf dessen Promotionsarbeit basiert. Es beschreibt „tote Winkel des Denkens“ anhand etlicher Beispiele aus dem täglichen Leben. Aus den Begrenzungen des von ihm ausgeführten analogisierenden Denkens resultieren zahlreiche fehlerhafte Beurteilungsheuristiken, die von ihm in mehrere Fehlerfamilien einsortiert wurden.
Als wichtiges Problem wurde die nötige „Vorsortierung“ der Information vorgestellt, die einer weiteren Verarbeitung durch das Gehirn vorangeht. Dies sei eine viel beschriebene und leicht aufzeigbare Fehlerquelle im Denk- und Entscheidungsprozess. So ließ der Referent die Anwesenden die Anzahl der afrikanischen Mitgliedsstaaten der UNO schätzen und auf einem ausgehändigten Blatt, auf dem bereits eine Zahl stand, notieren. Durch unterschiedlich große Zahlen auf dem Fragebogen konnte das Schätzergebnis deutlich beeinflusst werden. Der auf dem Blatt vorgefundene Wert wurde unbewußt als Referenzgröße für die eigene Schätzung genommen, obwohl ausdrücklich darauf hingewiesen worden war, daß diese Zahl in keinerlei Zusammenhang mit der Frage stünde.
Das Setzen solcher „Anker“ sei eine grundlegende Vorgehensweise, die wir bei Entscheidungsfindungen an den Tag legen. Die Anfälligkeit für solche Fehlentscheidungen werde noch dadurch erhöht, daß unter Zeitdruck oder beim unvollständigen Vorliegen von notwendigen Informationen weitere Einschränkungen unser Denkleistung zu beobachten sind.
Der niederländische Manualtherapeut E. Saedt berichtete über die Rolle von KISS bei der Manualtherapie in den Niederlanden.
Anhand von Fragebogen und Videoanalysen bemühen sich die Holländer, eine kontinuierliche Weiterbildung abzusichern.
Schließlich stellte er zur Entwicklung des neoenatalen Nervensystems sein Konzept vor.
Er ging der selbstgestellten Aufgabe nach, den Komplex der neonatalen Nervensystementwicklung neu zu ordnen. Mithilfe von neu definierten Clustern soll eine bessere Bearbeitung ermöglicht werden.
F. Zaucke Biochemiker aus der Uni Köln berichtete über „Knorpel, Knochen und Mechanotransduktion“
Es wurde die Bedeutung des Kollagens für die Belastbakeit von Knorpelstrukturen unterstrichen und anhand biochemischer und physikalischer Grundlagen erläutert. Vor allem Proteoglykankomplexe als zweite wesentliche Netzwerkkstruktur im Knorpel seien von erheblicher Bedeutung.
In den letzten Jahren seien große Fortschritte gemacht worden bei der Beschreibung von Zusammenhängen zwischen den biochemischen Veränderungen des Knorpels und einwirkender mechanischer Signale.
Mit am besten untersucht ist der Einfluß von low magnitude high frequency vibration (LMHFV) auf anabole Prozesse des Knorpels und des Knochens.
Die heutigen Erkenntnisse über mechanische Reize, die in eine biochemische Reaktion im Knochengewebe übersetzt werden, erweitern das etablierte Modell, daß extraskelettale Faktoren die primäre Ursache für alle adaptiven Prozesse des Knochengewebes sind. Das Forschungsgebiet der Mechanotransduktion erfahre daher eine zunehmende Beachtung.
Dabei seien erstaunliche Erkenntnisse erlangt worden. So scheine die mechanische Steifigkeit der umgebenden Matrix direkte Auswirkungen auf den aktuellen Status des Zytoskeletts zu haben. Die Interaktion könne möglicherweise so weit gehen, daß Stammzellen durch das umgebende Gewebe dazu gebracht werden, zu einer Gewebszelle auszureifen, die dem Steifigkeitsgrad der umgebenden Matrix entspricht.
Bei der weiteren Untersuchung dieser Phänomene konzentriere sich ein Zweig der Forschung auf das sog. „Channelome“, also der Satz exprimierter Ionenkanäle in biologischen Geweben oder Organismen.
An den exzellenten Vortrag schloß sich eine lebhafte Diskussion über Möglichkeiten des drug targeting von Wirkstoffen zur Knorpelbehandlung an. Außerdem wurden mögliche Einflüsse elektromagnetischer Felder auf Prozesse des Knorpel- oder des Sehnenstoffwechsels eruiert.
Micha Bahr schließlich sprach aus seiner kinderchirurgischen Perspektive über „Trichterbrust und Manualmedizin“.
Zur Einführung in das Thema wurden Klassifikationen der Trichterbrust vorgestellt und allgemeine Definitionen gegeben. Bei Klärung der Frage nach der Ursache für die Entwicklung einer Trichterbrust sei zu beachten, daß eine familiäre Disposition zu beobachten sei und Jungen bis zu viermal so häufig betroffen seien wie Mädchen. Es bleibe unklar, inwieweit die genetische Anlage die prägenden erworbenen Gründe überwiegen.
Bis vor Kurzem habe es nur die Op als wirksame Therapie der Trichterbrust gegeben. Da eine Trichterbrust praktisch nie schwerere Komplikationen verursache, sei eine Operation immer ein kosmetischer Eingriff, der nur durch eine psychische Entlastung der Betroffenen gerechtfertigt sei. Die verschiedenen Varianten sind aber alle nicht sehr befriedigend, was für ihn der Ansporn war, sich nach anderen Therapiekonzepten umzusehen.
So kam er mit der Saugglockentherapie in Kontakt. Die außergewöhnliche Geschichte dieser medizinischen Erfindung wurde anschaulich vorgestellt.
In enger Zusammenarbeit mit dem Entwickler der Saugglockentherapie wurden an der Kinderchirurgischen Universitätsklinik Jena inzwischen über 150 Trichterbrustpatienten behandelt. Die vorläufige Ergebnisauswertung des Jenenser Patientenkollektivs habe zeigen können, daß die Saugglockentherapie in den weitaus meisten Fällen eine Operation habe vermeiden können und zu sehr guten kosmetischen Ergebnissen geführt habe.
Er ging dann der Frage nach, ob es einen Zusammenhang zwischen Trichterbrust und Funktionsstörungen der HWS geben könne. Dies lasse sich zwar anhand des vorliegenden Datenmaterials nicht belegen, doch lege die Tatsache, daß ca. ein Drittel der Jenaer Trichterbrustpatienten funktionelle Störungen mit mutmaßlicher Lokalisation in der HWS aufwiesen, eine wechselseitige Beeinflussung beider Pathologie nahe. Diverse kasuistische Erlebnisse haben bei ihm die Überzeugung reifen lassen, dass sich eine Untersuchung der HWS auf derlei Probleme sicher lohnte.
Mit diesem Vortrag war Mittagspause erreicht, an die sich eine gemeinsame Begehung der Antwerpener Unterwelt anschloß. Aus der Renaissance sind überwölbte Kanäle erhalten, die heute zugänglich gemacht sind und so im wahrsten Sinne eine Sicht von unten auf Antwerpen erlauben (siehe). Nach diesem ‚anrüchigen‘ Spaziergang mit Taschenlampe waren wir froh, wieder das Tageslicht genießen zu können…
Nächstes Jahr treffen wir uns im sonnigen Süden. Zum Intensivkurs Röntgen in Apulien vom 20. – 24. März siehe Infos unter ‚Termine‘