Effekte funktioneller Störungen bei Neugeborenen
Dieser Artikel war für Hebammen geschrieben und wird hier in überarbeiteter Form präsentiert.
Manuelle Medizin beschäftigt sich mit der Analyse und Behebung funktioneller Störungen, meist arthrogen, d.h. durch Gelenke verursacht und unterhalten. Gerade beim Gegenstand dieser Betrachtung, der Rolle von Verspannungen im oberen Halswirbelsäulen (HWS)- Bereich – die sog. Kopfgelenke – ist ein ergebnisoffenes Notieren beobachteter Phänomene wichtig. Man sieht mit Freude, dass nach 30 Jahren keine grundsätzlichen Fehler zutage traten und dass das in der Erstbeschreibung Festgehaltene im Wesentlichen noch gültig ist.
Es ist schwer, Bewusstsein für funktionelle Pathologie zu wecken, da sich ein Großteil unserer Medizin auf die Analyse und Behebung morphologischer Probleme konzentriert. Gerade in der Perinatalphase sind derartige Phänomene geradezu Lebens- entscheidend; man denke nur an einen kurzzeitigen Sauerstoffmangel, der den gesamten Lebensweg in wenigen Minuten ‚umwirft‚. Dabei ist nicht alles irreversibel und so dramatisch, aber der Zeitraum, in dem (Teil)- Korrekturen dieser Dramen gelingen, ist nicht beliebig.
Was den Eltern und Behandlern oft auffällt ist die schmerzbedingte Verspannung der Kleinen; sie sind unruhig und lassen sich nur auf dem Arm getragen etwas beruhigen. Je nach Sichtweise werden dann auch z.B. Verdauungsprobleme, Schluckstörungen oder Übersäuerung des Magens verdächtigt.
Bei der Vielfalt der Symptome und den zahlreichen anderen Methoden, mit denen diese behandelt werden, verwundert es kaum, dass verschiedene Bezeichnungen gebraucht wurden. In einer Veröffentlichung von 1984 hatten wir z.B. das Krankheitsbild bei Kleinkindern noch als „zervikal- diencephal- kinesiologisches Syndrom“ bezeichnet. Kein sehr schöner Ausdruck, von griffig ganz zu schweigen. Das Nachdenken über hunderte von Fällen führte schließlich zum Begriff der Kopfgelenk- induzierten Symmetriestörungen. Das heißt: von schmerzhaften Verspannungen des oberen Halses ausgelöste Beschwerden bei Kleinkindern.
Glanz und Elend dieser Sichtweise ist, dass sie sozusagen quer liegt zur klassischen Kinderheilkunde und deshalb verständlicherweise etliche Widerstände provozierte, zumal es sich um einen ganz ungewohnten Ansatz handelt. Auch wurden verschiedene Wirbelsäulen- Regionen verdächtigt, aber die Praxis zeigte, dass es fast immer nur die oberste HWS ist, auf deren gute Funktion es ankommt.
Als ich vor vielen Jahren erstmals daran dachte, ein Buch über die Manualtherapie von Kleinkindern zu schreiben, hatte ich ungefähr 50 Säuglinge behandelt. Mir war alles klar – dachte ich damals. Die Zeit verging; immer mehr Babys wurden zur Behandlung gebracht. Wo vorher alles einfach schien, bemerkte ich jetzt Zwischenbefunde, spezielle Verläufe. Die ursprüngliche Sicherheit schrumpfte immer schneller. Nach viertausend behandelten Kleinkindern war dann 1996 die Zeit reif für eine erste Bilanz. Durch die bessere Kenntnis vieler Verläufe und Behandlungsdetails war es möglich, die Verbindungen zu Krankheitsbildern aufzuzeigen, die bis dato anders gesehen worden waren.
Reduzieren wir KiSS für den Anfang auf das Substantiv: Symmetriestörung, fixierte Abweichung von der Haltung in Mittelstellung. Alles, was nach links oder rechts abweicht, ist ziemlich einfach als ‚Schiefheit‘ zu erkennen; aber auch massives Durchstrecken nach hinten kann dazu gehören.
Doch erst muss mit einer alten Theorie aufgeräumt werden. Der Abschied vom ‚muskulären Schiefhals’ fällt Vielen schwer. Diese klassisch kinderorthopädische Diagnose bezeichnet ein Krankheitsbild, bei dem der vorn am Hals schräg verlaufende Muskel durch einen Bluterguss verdickt und später verkürzt ist und so den Kopf schief zu ziehen scheint.
Das ist eigentlich eine plausible Sache. Den dicken Knubbel kann man oft direkt nach der Geburt oder einige Zeit später tasten. Der Muskel ist verhärtet und verkürzt, und natürlich zieht er dann den Kopf krumm. Jahrzehntelang (und manchmal noch heute) wird dann operiert und der Muskel verlängert, um den Kopf wieder gerade zu richten (?). Der Muskel wurde bei Geburt mit-verletzt, als die viel relevantere, schmerzhafte Verspannung der Kopfgelenke stattfand.
Wie so oft gilt: Nicht das Auffallendste ist das Wichtigste.
Therapeutisches muss feststellen, dass gerade ein isoliertes Dehnen des verkürzen Kopfnickers erreicht eher das Gegenteil des Beabsichtigten. Es ist nicht der Muskel, sondern die ‚dahinterliegende‘ Gelenkirritation. Der therapeutisch gedehnte Muskel verkürzt sich nach einer kurzen Entspannung als Reaktion auf die Behandlung um so mehr.
Nicht wenige unserer letztlich unbefriedigenden Behandlungen waren darauf zurückzuführen, dass im Anschluss an sie diese Dehnungsübungen verschrieben worden waren. Wenn man sieht, dass die Entwicklung nach Therapie in eine gute Richtung geht, sollte man im Weiteren möglichst die Finger davon lassen. „Viel hilft viel“ stimmt eben auch hier nicht.
Die beiden Beschwerdetypen, die sich im Laufe der Zeit herauskristallisiert hatten, treten meist in Mischformen auf. Es ist hinsichtlich der Behandlung und Prognose sinnvoll, eine schematische Unterscheidung zu machen (und natürlich muss man die Differentialdiagnose im Kopf behalten):
KiSS I: Fixierte Seitneigung (s. Fig.1)
- Schiefhals
- Gesichts- und Schädelasymmetrie
- fixierte Seitlage von Hals und Rumpf
Asymmetrie der Pofalten
- Asymmetrie der Benutzung v. Armen & Beinen
- Verzögerte Ausreifung der Konkavseite
KiSS II: Fixierte Rückbeuge (s. Fig.2)
- Fixierte Kopfrückbeuge, v.a. beim Schlaf
- (asymmetrische) Abplattung des Hinterkopfes
- Schulterhochstand
- Arme in Henkel- oder Fliegerstellung
- Schlechter Stütz, ungern in der Bauchlage
- Schwäche der Mund- und Kopfhaltemuskulatur
- Sabbern & Schluckprobleme, ‚Reflux‘
- Stillprobleme, meist einseitig
- kalte u/o verschwitzte Hände und Füße
Wenn man sich die Enge und Krümmung des Geburtskanals beim Menschen vor Augen führt – was man Hebammen nicht erklären muss – ist eine Krafteinwirkung auf das Kind nicht die Ausnahme, sondern eher der Normalfall. Deshalb sind sie auch evolutionär gut für diesen unfallträchtigen Weg eingerichtet, sei es hinsichtlich der Fehlertoleranz des Zentralnervensystems, als auch der peripheren Muskeln und Nerven. Wobei sich gezeigt hat, dass wohl die Sensibilität gegenüber Zugbelastung ausgeprägter ist als auf Druck hin. So scheint das Kristellern (forcierter Druck auf den Bauch der Gebärenden) wohl weniger problematisch zu sein als das forcierte Entwickeln (d.h. Herausziehen) unter deutlicher Krafteinwirkung, das sich meist anschließt.
Durch mehrere Nachuntersuchungen scheint gesichert, dass es einen optimalen Therapie- Zeitraum zwischen dem dritten und neunten Monat gibt. Vorher ist die Kopfkontrolle noch zu wenig solide. Man kann in Ausnahmefällen durchaus behandeln, muss aber eher damit rechnen, dass ein erneuter Termin nötig sein wird, um langfristige Behandlungserfolge zu erzielen.
Um den ersten Geburtstag erfolgt die Phase der Vertikalisierung, und damit eine Zäsur in der Sensomotorik. Um den sechsten Geburtstag gibt es einen weiterer ‚Meilenstein‘: der Abschluss des Schädelwachstums. Bis zu diesem Zeitpunkt kann man übrigens davon ausgehen, dass sich perinatal erworbene Schädelasymmetrien reduzieren bzw. gänzlich verschwinden. Dies gilt insbesondere, wenn man die Spannungen an der HWS behoben hat (das als Randbemerkung zu der noch manchmal propagierten Helm- Therapie).
Die Praxis ist immer viel phantasievoller als die Theorie. Auch in der jahrzehntelangen Konfrontation mit Kurz- und Langzeitfolgen frühkindlicher HWS- Blockierungen lernten wir das. Geht zu viel Zeit ins Land, das ist durchaus richtig, findet man so massive muskuläre Veränderungen vor, dass eine rein funktionelle Behandlung nicht mehr ausreicht.
Das führt uns zu einem wichtigen Aspekt funktioneller Störungen: es ist enorm wichtig, wann der schädigende u/o behandelnde Einfluss ausgeübt wird. Dabei zeigt sich, dass die Perinatalperiode mit viel ‚Reparaturfähigkeit‘ ausgestattet ist. Wir wissen seit langem, dass Störungen, die in späteren Lebensabschnitten zu irreversiblen Schäden führen, in dieser Phase potentiell behandelbar sind. Man kann eine entspannte und gerade Haltung mit wenig dramatischen Mitteln erreichen, wenn man rechtzeitig behandelt. Verpasst man jedoch das therapeutische Zeitfenster, muss man zum Skalpell greifen.
Ein Problem in der Diskussion der Wichtigkeit rechtzeitigen Behandelns liegt in der andersartigen Symptomatik in verschiedenen Lebensabschnitten. Dass eine Verspannung der HWS beim Baby erst eine Fehlhaltung und Unruhe macht, aber Jahre später (und nicht selten nach einer symptomfreien Phase) Kopfschmerzen und Konzentrationsprobleme nach sich zieht, ist schwer verständlich. So könnte man sagen, dass in den Jahren zwischen Vertikalisierung und Schuleintritt ‚nicht so viel passiert‚.
Es ist dann die Anforderung an den gründlich Fragenden, nach Zusammenhängen zu suchen. Insofern sind wir in einer besseren Situation als die Kinderärzte, die nach der Pubertät kaum mehr Kontakte zu den jungen Erwachsenen haben. Umgekehrt hat die dann zuständige Kollegin oft kaum Einblick in die kindlichen Entwicklungsjahre. Im Lauf der Jahre lernten wir, dass bei manchen Beschwerdebildern starke Hinweise auf eine frühkindliche Ursache zu finden sind – wenn man sensibilisiert danach sucht. Differenzierteres Eingehen darauf würde den Rahmen hier sprengen.
Dies ist wohl auch der Grund, dass die KiSS- Problematik früher oft unterschätzt wurde. Die primären Symptome, derentwegen die Babys gebracht werden, sind auf den ersten Blick selbstbegrenzend: die berühmten (3- Monats) Koliken, Still- und Schlafprobleme, fixierte Haltung oder motorische Asymmetrien lassen oft spätestens mit der Vertikalisierung nach. ‚Aggressives Abwarten‚ – und die gestressten Eltern bei Laune halten – löst hier scheinbar Vieles. Erst wenn man sich den Zusammenhang zwischen den genannten frühkindlichen Problemen den erst Jahre später auftretenden Schwierigkeiten in der Schulzeit klar macht, erkennt an die Wichtigkeit einer Behandlung im Baby- Alter, zumal bei passender Technik zu diesem Zeitpunkt meist eine Behandlung ausreicht.
Nach Jahrzehnten der Arbeit mit Kleinkindern kann als sicher gelten, dass ein Röntgenbild nicht nur durch Verbesserung der Differentialdiagnose, sondern auch durch die Optimierung der Behandlungstechnik sehr wertvoll ist. Ich würde sogar so weit gehen, dass ohne vorheriges Röntgenbild bei keinem Patienten eine gezielte Technik am Hals gut zu heißen kann. Zu den – vernachlässigbaren – Risiken des Röntgens am Hals haben wir ausführlich Stellung genommen (s. Litverzeichnis auf der Eingangsseite); mit Einführung des digitalen Röntgens sind die Strahlendosen weiter reduziert worden. Als kleine Randbemerkung sei darauf hingewiesen, dass bei jedem Gewitter Röntgenstrahlen entstehen. Im Extremfall behandeln wir mit einer unspezifischen Technik (und damit suboptimalen) und bitten die Eltern, die Skepsis gegenüber einem vorherigen Röntgenbild zu überdenken und dann ggf. wieder zu kommen.
Es gab und gibt Vorschläge, ohne Röntgenbilder eine umfassende Diagnostik der HWS- Funktionsstörungen durchzuführen; nach unzähligen vergeblichen Versuchen sei erlaubt, daran Zweifel anzumelden. Die Röntgenbilder sind bei 90% der Patienten unnötig – aber das weiß man eben erst hinterher. Eine differenzierte Auswertung bringt so viel Information für die Behandlung, dass die – minimale – Strahlenbelastung damit ins Verhältnis gesetzt werden muss. Viele, die glauben, ohne sie auszukommen, dürften nicht alles sehen, was zu sehen sein kann. Ein recht schlagendes Argument ist, dass wir mit unserem Vorgehen, das auf einem obligatorischen Röntgenbild aufbaut, helfen können, wo vorher erfolglos behandelt wurde.
Was auch ganz empirisch bei der Kommunikation mit den Familien im Lauf der Jahre klar wurde, ist die familiäre Komponente. Wenn ein Baby bei uns war, kam oft das Geschwisterchen auch. Da wir immer einen Fragebogen vor dem Erstgespräch ausfüllen lassen, sagten uns die Eltern da nicht selten: „Ich kenne Vieles davon auch vom älteren Bruder“. Wobei bei einem kleinen Knaben eher der Bruder, bei einem zu behandelnden Mädchen meist die Schwester gebracht wurde.
Letztlich geht das dann noch Generationen nach hinten: hat man einen oder zwei Brüder behandelt, kann es sein, dass man den Vater und Großvater mit ihren Schulterschmerzen und Ähnlichem vorgesetzt bekommt. Diese Erfahrung bleibt Kinderärzten verwehrt, wenn ihr Behandlungszeitraum mit dem 16. Lebensjahr der PatientInnen meist endet.
Vieles von dem, was wir über die familiären und Langzeit-Verläufe gelernt haben, ist auf der Basis von Patienten- Berichten zusammengetragen worden. Wie so oft bildet man sich Arbeitshypothesen und Modelle, die man nicht selten, nach der Konfrontation mit der Realität, wieder überdenken oder ergänzen muss. In der Nachfrage 6 Wochen nach Behandlung hörten wir dann von Verbesserungen auf Gebieten, auf denen wir sie gar nicht erwartet hatten: Oft schliefen die Kinder besser, wurde das Ess- und Trinkverhalten einfacher. Mütter berichteten, dass das Stillen viel leichter gelang.
Das war der Beginn systematischer Untersuchungen, die dann im Laufe der Jahre erlaubten, zwischen den beiden Typen zu unterscheiden. Diese Differenzierung ist kein müßiger Schnörkel, denn sie erlaubt gewisse Wahrscheinlichkeiten zuzuordnen und die Therapie besser zu planen. Gerade bei KiSS II ist der Zusammenhang mit einer cervicogenen Ursache nicht offensichtlich, da die Symptome auf einer ganz anderen Ebene liegen.
Wichtiges Beispiel aus der Entwicklung der letzten Jahre ist der frühkindliche ‚Reflux‚, der vor allem bei unseren Kollegen aus Benelux sehr ‚beliebt‘ ist. Nicht selten werden dann -z.T. langfristig – H2– Blocker verordnet und Gastroskopien durchgeführt. Es ist zumindest fragwürdig, das Einregulieren des frühkindlichen Säure-/Basen- Haushalts schon am Lebensanfang mit diesen Medikamenten zu erschweren, zumal mit der – einmaligen – Behandlung der HWS- Probleme ein probates Mittel zur Verfügung steht.
Wichtig ist, dass man vom Standpunkt der funktionellen Pathologie/Manualmedizin denkt. Das ist in dieser morphologisch geprägten Zeit nicht einfach. Physiotherapeuten u/o Hebammen haben es da leichter, da in ihrem Berufsfeld die Funktionsstörungen einen wichtigen Aspekt ausmachen.
Man behandelt nicht einen muskulären Schiefhals mit der Manualmedizin, sondern ein KiSS. Erst dann kann es gelingen, verschiedene Aspekte – die auf den ersten Blick in ganz unterschiedlichen Bereichen auftreten – unter ein pathophysiologisches Dach zu bringen. „Es ist durchaus nicht natürlich, dass jeder sieht, was da ist“(Wölfflin). Dass einem neuen Ansatz mit allgemeiner Zurückhaltung und Skepsis begegnet wird, ist durchaus verständlich. De facto musste er sich erst beweisen; um so erfreulicher ist es, daß diese Sichtweise sich in den letzten Jahren herumgesprochen und bewährt hat.
Bei der Erstpublikation sprachen wir damals vom KiSS- Syndrom, d.h. einer Kombination von Symptomen, bei der man noch nicht genau wusste, wie sie zusammenhängen. Mit dem Zusammentragen diverser Fachbeiträge für die Monographien Anfang der letzten Jahrzehnte haben wir genauers Einsicht in die Ursachen erlangt. Eine darauf aufgebaute Therapie hat nachweislich gute Ergebnisse erzielt und andere Erklärungsmodi wurden kaum vorgebracht. Heute hat das „KiSS“ den Zusatz ‚Syndrom‚ nicht mehr nötig.
Vom Standpunkt der Hebammen und GeburtshelferInnen ist es sinnvoll, zwei Ausprägungen zu unterscheiden: zum einen hat man Kinder, die schon unmittelbar nach der Geburt ’schief‘ sind, durch Unruhe und Stillschwierigkeiten auffallen und beim Bonding z.B. durch forcierte Rückbeuge auffallen. Eine weitere Gruppe ist am Lebensbeginn unauffällig, da kommen die Probleme erst mit 2-3 Monaten. Wir vermuten, daß bei der ersten Gruppe schon intrauterine Faktoren mitspielen – z.B. sind hier die Zwillinge (siehe Bild oben) gehäuft. Bei der zweiten Gruppe ist das eigentliche Geburtstrauma wohl führend. Hier ist noch viel Klärungsbedarf.
Die Behandlung selbst (s. Fig.3) ist umso schwieriger lernbar, als sie einfach zu beschreiben ist: Eine sekundenschnelle Manipulation am Kopf/Hals Übergang, im richtigen Moment, in der – meist – durch das Röntgenbild vorgegebenen Richtung und Stärke. Ein Drittel der Kinder reagieren am selben Tag positiv, ungefähr die Hälfte innerhalb weniger Tage; es bleiben ca. 15%, bei denen man nachhaken muss, weil z.B. eine neurologische Komponente mitspielt.
Schon die unmittelbare Erleichterung der Eltern, wenn das Stillen klappt und das Kind besser schlafen kann, ist Lohn genug für den behandelnden Arzt. Aufgrund vieler Beobachtungen legt nahe, die Langzeiteffekte auch im Auge zu behalten, wenngleich diese ungleich schwieriger verifizierbar sind.
Will man Gesichts- und Schädelasymmetrien behandeln, sollte man Geduld mitbringen und darauf hinweisen, dass sie ein Symptom sind. Bei den Hinterkopf- Abplattungen mit ihrer starken ossären Komponente muss man für die Besserung in Jahren rechnen. Bei Weichteil- Asymmetrien geht es schneller; hier wirken sich Änderungen der Gewebespannung in Wochen aus. Bei den knöchernen Strukturen des Hinterkopfs kann eine Normalisierung nur im Rahmen des Schädelwachstums erfolgen.
Die Eltern erlangen Klarheit über den Zeitrahmen, indem wir ihnen immer sagen „Bis Ihr Kind in die Schule kommt ist die Asymmetrie weg“.
Es verlangt einiges an Vertrauen der Eltern, so lange zu warten. Unsere Kultur ist mehr die der totalen Kontrolle und des maximalen Einsatzes – sie steht einem gelassenen Abwarten ziemlich skeptisch gegenüber; diese Parallelen sind Hebammen vermutlich auch aus dem geburtshilflichen Kontext bekannt. Zudem ist die größte Herausforderung einzusehen, dass mehr tun weniger bringt. Dies zu vermitteln ist besonders dann schwierig, wenn zum Teil mit universitärer Autorität (s. Helmtherapie) das Gegenteil propagiert wird. Man muss aber betonen, dass die Helmtherapie nur ein Symptom behandelt (die Asymmetrie) und nicht die Ursache (die funktionelle Störung) behebt , die durchaus später im Leben noch ‚Ärger macht‘, wie wir bei vielen als Baby ‚behelmten‘ und im Schulalter trotzdem auffälligen Kindern sahen.
„Wenn so viele so lange den Muskel als Hauptursache für den Schiefhals ansehen, woher nehmt ihr die Courage, das auf den Kopf zu stellen, und aus dem Täter ein Opfer zu machen?“ –
„Aus dem Erfolg der Behandlung, die wir, gestützt auf unsere Vorstellungen durchführen“ – müsste man den so Fragenden antworten. Das und nur das ist letztendlich die Berechtigung jeder Theorie. Mit einer Doppelblind- Untersuchung kann man sehr schön die Wirksamkeit von Medikamenten überprüfen, allerdings passen Methoden wie die Manualtherapie oder Chirurgie nur schwer – da kaum ‚verblindbar‘ – in dieses Studiendesign. Für die vielschichtigen und dauernden Effekte der Sanierung der Kopfgelenk- Funktion sind Langzeitbeobachtungen unabdinglich, über die wir berichtet haben.
Fixierte Fehlhaltungen und Schädelasymmetrien sind kein neues Problem. Es gibt Veröffentlichungen, die Schädelasymmetrien mit der Rückenlage der Kinder beim Schlafen (z.B. zur Vermeidung des plötzlichen Kindstodes) in Verbindung bringen. Unsere Erfahrung zeigt eher, dass die Asymmetrien schon immer aufgetreten waren, aber daß man sie früher – konfrontiert mit Dringenderem – meist nicht bemerkte.

Aus einem alten Lehrbuch: Chirurgische Kupfertafeln, Weimar 1820
Neben den vielfältigen außer- medizinischen Quellen gibt es auch eine ärztliche Tradition, die sich über die klassische Antike und die mittelalterliche arabische Medizin bis in unsere Zeit verfolgen lässt.
Das Bemühen um ’schiefe Kinder‘ zieht sich durch alle Kulturen und in Europa durch etliche Jahrhunderte. Früher lag der Schwerpunkt auf die Redression, d.h. dem Zurück- und Geradebiegen mit allerlei Geräten. Die – wenigen – funktionellen Ansätze damaliger Zeit waren eher ungezielt. Im Kontrast dazu können wir heute auf eine breite Basis gut dokumentierter und effizienter Methoden berufen. Wir haben dies in etlichen Nachuntersuchungen dokumentiert: eine einzige Behandlung im ersten Lebensjahr ist in 80 – 90% der Fälle ausreichend, bis zum Ende des Kindergartenalters sind es in der Regel zwei oder drei..
Wir wollen hier einen Arzt herausgreifen:
Im Jahr 1658 wird in Lyon Nicolas Andry geboren.Er lehrt und arbeitet in Paris, wo sein Hauptwerk erst kurz vor seinem Tode (1741) publiziert wird. Andry schuf den Begriff Orthopädie, der – wörtlich übersetzt – etwa mit „Geraderichten der Kinder“ wiedergegeben werden könnte. Wir sehen mit Verblüffung, wo die Orthopädie begann!
Auch von anderer Seite wird ähnliches berichtet: Der französische Geburtshelfer Frédérick Leboyer berichtete schon vor Jahrzehnten in einem Foto- Essay über indische Babymassage und wir sehen dabei praktisch dieselben Tipps, die uns Andry von hunderten von Jahren gab. Beide Ansätze hatten natürlich keinerlei Vorstellung zu Ursache und Patophysiologie.
Als ’nur- Mediziner‘ ist man nicht selten neidisch auf die Vertrauensbeziehung, die sich oft zwischen den Gebärenden und ihren Hebammen aufgebaut hat. Gerade als Mann muss man einfach akzeptieren, dass wir wohl kaum auf dieses Niveau von Intimität kommen können. Umso wichtiger ist, dass die Hebammen mit diesem Vertrauen verantwortungsvoll umgehen; auf ihre Fachexpertise wird oft großen Wert gelegt. So sollte man vermitteln können, dass nicht jede Schädelasymmetrie, nicht jede Unruhe und alle Stillprobleme gleich mit intensiver Therapie angegangen werden müssen.
Wir wissen seit den achtziger Jahren, dass über die Hälfte der Neugeborenen von einer Funktionsstörungen der HWS betroffen sind, jedoch die Meisten sich selber daraus befreien. Sogar recht ‚zerdöllerte‘ Köpfe haben oft eine gute Chance, sich spontan zu runden. Nicht selten reichen Tipps zum Handling, die gerade die Hebammen nach der Geburt parat haben. In der 3.-5. Lebenswoche bleiben dann von den über 50% der auffälligen Babies ca. 5% übrig, bei denen man dann intensiver eingreifen muss. Der nächste Schritt ist meist physiotherapeutischer u/o osteopathischer Natur.
Wenn man nach 2-3 Behandlungen keine signifikante Besserung sieht, sollte man sich nicht zu lange damit aufhalten, sondern das Kind einem zügig Spezialisten vorstellen. Eine sensible Struktur wie die obere Halswirbelsäule sollte nicht zu oft behandelt – d.h. auch irritiert – werden.
Die HWS- Behandlung hat eine viel- hundertjährige Geschichte, wenngleich hier mit völlig anderen Vorstellungen hantiert wurde. Die Einen empfahlen Einreibungen, andere rieten zu Massagen. Wieder Andere waren davon überzeugt, durch die Beeinflussung der Reflexmuster oder die Mobilität der Schädelknochen Erfolge zu erzielen. Zu vermuten ist, dass es bei vielen dieser Methoden die Kopfgelenke ’nebenher mitbehandelt‘ wurden. Viele physiotherapeutische Techniken sind sehr ‚Kopfgelenk- beeinflussend‚, auch cranio- sacrale Methoden wirken sich hier aus. Es ist nur normal, dass sich Etliche die therapeutische Potenz dieses Bereichs zu Nutze machen – und daß bei einem so handwerklichenAnsatz das Rad immer wieder neu erfunden wird (nicht zuletzt, damit man seinen Namen drauf kleben kann). Der von der Vielfalt der Möglichkeiten überwältigten Mutter stellt sich dann die Frage, welcher Methode der Vorzug zu geben ist.
Wir würden vorschlagen: derjenigen mit dem geringsten Aufwand, der schnellsten Wirksamkeit und der größtmöglichen Schonung.
Weniger ist mehr.