Medikamente als Heilmittel oder Droge
Wir sind als Ärzte heute mit einer Fülle wirksamster Medikamente ausgestattet, deren Einsatz auch bei eher banalen Erkrankungen nur allzu verführerisch ist…Wenn man Fotodokumentationen aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg durchschaut, stößt man immer wieder mal auf Bilder, die Menschen in einer weißen Puderwolke zeigen. Zum Entlausen wurden damals Soldaten und Zivilisten mit DDT eingenebelt. Die dramatisch positiven Effekte waren nicht zu übersehen: In ganz kurzer Zeit gelang es so, ganze Flüchtlingslager parasitenfrei zu machen. Zwar war DDT schon Jahrzehnte bekannt aber erst Ende der dreißiger Jahre war seine insektizide Wirkung von dem Schweizer P.H.Müller beschrieben worden, der dafür auch 1948 den Nobelpreis bekam. In dieser Zeit vor mehr als einem halben Jahrhundert gab es noch andere Wunderwaffen moderner Chemie wie Antibiotica und Cortison.
All diese Mittel zeigten ähnliche Merkmale: Von nahbei betrachtet stellten sie wunderbar effektive Hilfen zu Bewältigung unlösbar geglaubter Probleme zur Verfügung. In der technikverliebten und -gläubigen Nachkriegszeit waren die Wenigen, die auf die Schattenseiten hinwiesen, schnell marginalisiert. Rachel Carsons Buch ‚Silent Spring‘ beschrieb schon 1962 die negativen Auswirkungen der Pestizide auf die Biotope, besonders für Vögel. Es dauerte über 10 Jahre, bis sie und andere Kritiker durchsetzen konnten, dass DDT vom Markt genommen wurde. Es ist zu vermuten, dass ein Grund hierfür darin zu suchen ist, dass in der Zwischenzeit andere Mittel entwickelt und kommenziell interessanter waren.
Es wurde also gelernt – aber ich würde das Lernen erster Ordnung nennen. Man nahm das offensichtlich umwelttoxische DDT aus der Zirkulation – um es durch andere Chemikalien zu ersetzen. Auch bei diesen wurde dann nach einer gewissen Zeit Ähnliches entdeckt, auch sie wieder vom Markt genommen – und durch die nächste Generation von Präparaten ausgetauscht.
Mit Antibiotica ist es ähnlich: Manch einer entblödet sich nicht, schnellere Herstellungzyklen zu fordern, um so der unvermeidlichen Resistenzentwicklung davonzulaufen. Dabei wird in der seriösen Literatur schon seit Jahrzehnten vor der unkritischen Verwendung gewarnt. Aber da sind halt massive Interessen im Spiel. Wie soll man einem Produzenten verübeln, möglichst viel verkaufen zu wollen? Natürlich wird man brav vor Fehleinsatz warnen, um dann im Nebensatz eben dies wieder zu fördern. Ich werde nie vergessen, wie ich als ganz junger Assistent bei einem urologischen Patienten ein gerade auf den Markt gekommenes Cephalosporin bei einer völlig banalen Harnwegsinfektion anhängen sollte. Auf meinen Einwand, dass das nicht indiziert sei, erwiderte der verantwortliche Belegarzt: „Für meine Patienten nur das Beste!“
Nicht das Medikament an sich ist schädlich, sondern sein unsachgemäßer Einsatz. Bei all dem sei betont, dass die meisten Mittel durchaus positiv zu bewerten sind. Nicht dass sie eingesetzt werden ist verwerflich, sondern dass sie zum allergrößten Teil falsch eingesetzt werden. Ein beliebtes Argument der Verteidiger dieser Wirkstoffe ist zu fragen, was man wohl machen würde wenn das eigene Kind an einer Erkrankung litte, die nur mithilfe dieses Stoffes behandelt werden kann. Natürlich wird man dann dies Antibioticum einsetzen oder im Status asthmaticus Cortison geben. Aber eben nicht bei jeder Bagatelle.
Bei den Psychopharmaka ist in den letzten Jahren eine noch besorgniserregendere Entwicklung zu beobachten: Zum Einen werden bei der Lancierung neuer Präparate nur die Studien breit publiziert, die eine gewünschte Ergebnislage dokumentieren, zum Anderen die ‚vergessen‘, wo es nicht so gut aussieht. Für Prozac & Co. ist das ganz gut dokumentiert; so schreibt das Arznei- Telegramm: „Jede Empfehlung eines selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmers (SSRI), die sich an den veröffentlichten Studien orientiert, beruht auf verzerrter Datenlage, urteilten vor fünf Jahren Mitarbeiter der schwedischen Arzneimittelbehörde“ (AT 25.2.2008).
Was uns als mit Kindern Beschäftigte besonders bekümmert ist der immer unkritischer Umgang mit Amphetaminen. Die Mengen sind von 1993 (34kg) auf 2009 (1,7t – ja, Tonnen!) ver-50-facht. Auch hier gibt es viele Stellungnahmen, die vor unkritischer und zu schneller Diagnose von ADHD mit der Konsequenz von Langzeit- Verordnung von Psychostimulantien warnen. Im Folio der NZZ wurde kürzlich zusammengefaßt, wieviel (oder -wenig) diese Mittel die Hirnleistung verbessern (hier) – der Effekt bewegt sich im Placebo- Bereich aber das hindert viele Studierende und deren Dozenten nicht daran, das Zeug fleißig zu schlucken.
‚There is no such thing as a free lunch‘ ist man versucht denen zuzurufen. Von den Schlankmacher- Pillen bis zum Potenzmittel ist aber die Neigung der Menschheit ungebrochen, sich auf dererlei Selbstexperimente einzulassen. Aber wenigstens im Kleinen sollte man gegenhalten.
Was hiermit versucht wurde ;-)