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H. Biedermann
Literaturliste & Kongreßbeiträge (Auswahl)

Warum der Hinterkopf so wichtig ist – weit über seine Umgebung hinaus

Nicht selten haben wir – ungefähr auf halber Strecke der ersten Begegnung mit einem neuen Patienten – mit einem kleinen Verständnisproblem zu kämpfen.

Im Rahmen der Untersuchung seiner Beschwerden, die keineswegs vor allem im Nacken den meisten Kummer&Ärger machen, stellen wir fest, daß der Rücken recht verspannt ist – um es mal umgangssprachlich zu formulieren. Wenn man nun diesen verspannten Muskeln hinterhergeht, kommt man nicht selten „oben am Hals“ an.

Im Prinzip können sich da zwei Problembereiche finden: echte ‚Blockierungen‘, d.h. feste Verbindungen der einzelnen Segmente der Halswirbel, oder muskuläre Hochspannung in diesem Bereich. Das läßt sich natürlich nicht schematisch voneinander trennen und ist recht häufig miteinander verbunden, aber es ist doch wichtig,, sich eine Meinung zum Hauptproblem zu bilden. Gemeinerweise muß das da, wo man’s am meisten findet, gar nicht so viel Ärger machen.

Deshalb ist das hier einmontierte Foto eigentlich nicht ideal für diesen Text, da es ja den Nacken eines älteren Herren zeigt, aber dazu später mehr. Die Jugend hat halt meist den eigentlichen Nacken unter einer noch reichlichen Haarpracht verborgen, vom subcutanen Fettgewebe, das auch den Blick auf die Strukturen erschwert, ganz zu schweigen. So sieht man halt die anatomischen Details hier besser als bei Jüngeren.

Im Extremfall – nicht selten bei Teenagern, und da meiner Erfahrung nach bei Mädchen noch mehr als bei Jungs, können Beschwerden an der Achillessehne mit Ursachen mechanischer Probleme am Hals, meist an den Kopfgelenken (der obersten Etage), in Verbindung gebracht werden. Nicht selten muß man dann den besorgt zusehenden Eltern die Zusammenhänge zu erklären versuchen, was einen gewissen Vertzrauenskrediet voraussetzt, wenn man zur Behandlung kommt.

Bei Jüngeren sind es also in der Regel ‚echte‘ Blockierungen, bei älteren eher muskuläre ‚Fehlprogrammierungen‘ – wobei hier vom Kiefer, über die Statik bis zur Psychologie eine Vielfalt von Ursachen in den Blick genommen werden müssen. Entsprechend sind die Behandlungsansätze unterschiedlich: Während Blockierungen, wenn man sie korrekt analysiert, oft mit einer Behandlung angegangen werden können, sind die muskulären Probleme hartnäckiger und vielfältiger. Hier muß man nicht selten der Versuchung widerstehen, ‚einfach‘ entspannend einzuwirken, und erst nach der strukturellen Ursache forschen; wenn man aber diese nicht oder nur teilweise angehen kann, bleibt eben die symptomatische Therapie, d.h. wir bemühen uns, wenigstens die Verspannung zu mindern.

Das ist Glanz und Elend der Behandlung ‚ganz erwachsener‚ Patienten (also derer über 40LJ). In dem hier angehängten Artikel geht es vor allem um diese Zusammenhänge.

Der weitreichende Einfluß der Fehlfunktion des Nackens

Wie ein kleiner Bereich Auswirkungen weit über seine unm,ittelbare Nachbarschaft haben kann. Ein gutes Beispiel sind Beschwerden Carpaltunnel oder dem Epicondylus. Oft Liegt ihre strukturelle Ursache ganz woanders. Oft liegt ein Mischbild vor – der kranke Organismus tut uns eben selten den Gefal­len, nur am Ort der Beschwerden Probleme zu haben, oder sich aufs Mechanische zu beschränken.

Ein ge­reizter Meniskus muß immer eine Unter­suchung der Beinachsen und der Funktion der Hüften nach sich ziehen, sonst greift die Therapie zu kurz. Ein Gangfeh­ler mit Schmerz am Sprunggelenk kann von einem gichti­gen Großzehengrundgelenk (mit-) verur­sacht sein etc. ‚Erfahrungs­heilkunde‘ nannte man das früher, und es ist ein wenig vergessen worden, dass eben die­ses weiter Ausholen nicht nur bei funk­tionellen Be­schwerden sinnvoll ist.

Die Wirbelsäulenpole spielen hier oft eine herausragende Rolle. Im Folgenden soll uns der obere Bereich be­schäftigen. Er weist in unter­schiedlich­en Lebens­phasen unterschiedliche Stö­rungsmuster auf: der Nacken mit seinen Ansätzen der langen postura­len Ketten, seiner komplexen sensomo­torischen Verschaltung.

Ein klassischer Behandlungsansatz

In der Neugeborenenphase ist hier das Zentrum der motorischen Entwicklung2; je älter man wird, desto mehr kommen andere Bereiche zum Zug. Zum einen ist diese Zone Agonist der Rücken­streckung bis zum Beckenring, zum anderen Antagonist der Temporomandibulärregion. Kau/ Kieferbereich und Atemwege mit ihren Störun­gen und Auffälligkei­ten kommen auch hier zum Tragen, mechanisch durch Muskelverspannungen und lokale Entzünd­ungen, da zwischen Rachen- Hinterwand und HWS kaum Ab­stand ist. Vom ‚Zähne zusammen­beißen‘ und den Nackenschlägen der eher Erwach­senen ganz zu schwei­gen. Ziel dieser Diskussion ist nicht, die ganze Spannbreite der hier relevanten Diagnosen und Behandlungsan­sätze darzulegen.  Ganz ‚realpolit­isch‘ steht hier die Frage im Vorder­grund, wel­che symptomatischen Einfluss­möglichkeit­en am unkompliziertest­en sind, sozu­sagen zum Grund­reper­toire gehören.

Daß diese Region schon lange im Blick verschiedens­ter Behandler:innen ist, zeigt ein Blick in die Geschich­te. Schon in früheren Jahren und Kulturen waren etli­che Abstandshalter und Tragevorrichtungen bekannt, die am Nacken ansetzen. Es wurde lange geglaubt, dass die aus anthropologischen Veröffentli­chungen be­kannten Nackenstützen vor allem zur Schonung der aufwendigen Frisuren benutzt wurden3, oder gar zeremoni­elle Funktionen hatten. 

Schon früh wurde die Glisson- Schlinge propa­giert; der Namensgeber war Anatom im England des 17. Jhds. Die ursprüngliche Version zog mit­tels einer Schlinge am Kopf des Patienten; spätere Model­le stützen sich auf den Schultern ab . Wer sich in einen Glisson begab, sollte Platzangst- frei sein. In den letzten Jahren kam auch der Rat auf, sich mit Ten­nis­bällen und einem Socken eine Stütze zu kon­stru­ieren, auf der man dann liegt, um den Hals zu stimulie­ren. Bei diesen Konzepten stört, daß einerseits meist der ohnehin verspannte Trapezius als Basis dient, was die­sen zusätzlich irritiert. Zudem umfasst und drückt der vordere Anteil des Gurtes das Kiefergelenk, dessen Rei­zung in der Regel eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Die Kon­struk­tion mit den im So­cken verpackten Tennis­bällen hat zwar den Vorteil, dass man auf Vor­handenes zurückgreifen kann, und es auch nicht beim Gebrauch einengt, aber den Nach­teil, dass die Richtung der ausgeübten Kraft recht­winklig vom Boden weggeht, und so nur wenig Trakti­on auf die schmerzhaft verkürzten Nackenmus­keln ausübt.

Ideal ist natürlich alles, was z.B. als manuelle Traktion  verabreicht wird (vgl. Abb. 3). Auch hier sei auf ältere, teilweise dramat­isch wirkende Behand­lungsvorschläge verwie­sen, die heutzutage kaum glaublich wirken. Eine Traktion hat den Vorteil, daß man auf Reaktionen des Patienten Rücksicht nehmen und z.B. die nicht immer symmetrisch abnehmende Muskel­spannung re­agieren und so gezielter arbeiten kann. Nachteil dieses Ansatzes ist, dass man das nicht ‚eben mal so‘  machen kann. Nicht zuletzt deshalb sind alle Beteiligten dankbar für alles, was die Patienten in den Stand versetzt, sich selber im Akutfall zu helfen.

Oft ist eine Kombination die beste Wahl: Zu Beginn kümmern sich Ärztin und/oder Therapeut um die geklagten Be­schwerden und behandeln diese, im Anschluß daran wird es dem Patienten dann ermöglicht, zumindest zwischen­zeitlich selbst tätig zu werden; eine Variante, die sich im Lauf der Jahre bewährt hat. Sie er­möglicht es den Patienten, wiederholt auftretende Beschwerden selbstständig anzu­gehen und macht so einen Teil der sonst nötigen Besu­che beim Therapeuten vermeidbar. Ganz darauf verzicht­en kann man in der Regel nicht, aber für die dann selteneren Besuche sind dann meist Beide motivierter.

Viele Faktoren wirken hier ein

Nackenverspannungen durch ein stressiges Leben – das war eigentlich auch der Grund, warum ich in die­ses Pro­jekt4 eingestiegen war. Eine Kombination eines streßaffinen Charakters (da kann man nichts dran än­dern) und Streß- verursachender Lebensumstände (leider zumindest kurzfristig auch kaum beein­flußbar) führen bei Vie­len zu immer wiederkehrenden Verspannungen im Nacken. Wie sich das von hier aus weiter auswirkt, ist im Wesentlichen ein individuelles Phänomen; es ist der ‚Wetterwinkel‘ der persönlichen Beschwer­den5Ein junger Mensch z.B., der von früh auf immer wieder mit Kopfschmerzen zu tun hatte, wird auf eine kieferorthopäd­ische Behandlung (KFO) mit ihrer Irritation der loka­len Muskeln mit eben diesen Kopfschmerzen re­agieren. Nicht dass sie nun primär durch die KFO verur­sacht wären. Sie waren vorgebahnt und jede Irritation im Hals-Nackenbereich löst sie wieder aus. Gerade bei KFO und der hierbei fast unvermeidlichen Aktivierung der Biomechanik ist das bei unseren jungen Patienten häufig zu beobachten.

Hier ist eine kausale Behand­lung fast unmöglich, stellte sie doch die KFO in Frage, und symptomati­sche Maßnahmen sind die Methode der Wahl, zumal ein Ende des Irritation (die KFO-Behandlung) abseh­bar ist. Auch angebo­rene Imbalancen der Statik – von einer einfachen Becken­ausgangs- Asymmetrie bis zu Skoliosen – kom­men oben an d.h. sie tragen zu nucha­len Verspan­nungen bei, und strahlen dann sekundär von hier in die Peripherie aus.

Sind es bei Heranwachsenden fast immer Beschwer­den mit Kopfschmerz- Charakter, fächert sich das Beschwerd­ebild in der Folgezeit auf, oft schon in der Teenager- Phase,. Z.B. spielt der Schulter- Arm­bereich, ja die Beine spielen mehr und mehr eine Rolle. Sicher ist die lokale Problematik nicht zu unterschätzen – sei es die Überreizung von Schulter, Ellenbogen oder Handgelenk – aber ohne an die übergeordneten Strukturen zu den­ken, kommt man selten zu einer dauerhaften Lösung, oder muß unnö­tig massive Mittel einsetzen. Weder das ‚Viel hilft viel‘ , noch das medikamentöse Ab­decken mit Schmerzmitteln sind eine schöne Lö­sung. Hier kann ein Einwirken auf die jahrelang bestehen­den Verspannungen im nuchalen Areal ge­radezu kausal sein, weil diese zwar ursprünglich durch die Grundproblematik verursacht waren, jetzt aber ihrers­eits das Ganze mit unterhalten. Auch hier ist man im Sinne einer effizienten Behandlung gut beraten, wenn man die Eigeninitia­tive des Patienten in die Therapie integrieren kann.

Ein oft übersehener Aspekt der Behandlung funktioneller Beschwerden ist auch, dass fast regel­mäßig zu beob­achten ist, wie die objektive Besse­rung der subjektiven vorausgeht. Bei der Befundkontrolle nach einigen Wo­chen ist oft deutlich, dass die Härte der Anspannung, das Ausmaß des muskulären Ver­krampfung schon deut­lich nachgelas­sen haben, die Patienten aber über ‚noch immer die gleichen‘ Be­schwerden klagen. Das ist kein böser Wil­le, oder gar Simulieren, sondern ihrem ‚Schmerzgedächt­nis‘ geschuldet. Einmal gebahnt, springt es schon bei einer klei­nen Irritation wieder an, und muß erst im Lauf der Zeit verlernt wer­den – was Wochen und Monate in An­spruch nehmen kann. Hier spielen Beschwerdedauer, Charakterielles und die Lebensumstände ei­ne Rolle. Auch deshalb kann es wichtig sein, den Patienten aktiv in die Be­handlung zu integrieren. So kann diese nicht selten recht lange Periode von den Patienten besser toleriert werden.

In der Konfrontation verschiedener Beschwerden in Kopf/Schulter/Nacken Bereich wird deutlich, dass die Ursa­chen der Beschwerden ganz unterschiedlich sein können; von einer Zahnproblematik über eine Fehlsta­tik, eine Störung im Oberbauch oder ein Streß in Beruf und/oder Familie löst das dann Muskelhartspann in immer den gleichen Bereichen aus. Von da aus wie­derum werden durchaus nicht immer dieselben Be­schwerden hervorge­rufen. Mal sind es Kopf­schmerzen, mal der berüchtigte ‚Tennisel­lenbogen‘ oder Schwin­del, Druck auf der Brust oder mangelnde Leitungsfä­higkeit. Da fast immer ein Mischbild vorliegt, ist die Aussage, dass der Tra­pezius verhärtet ist, meist wenig hilfreich für die Suche nach der Ursache.

Schaltstelle Nacken

Dieser Sanduhrcharakter der Nackenverspannungen (viele Ursachen, ein Symptom, etliche daraus resul­tieren­de Beschwerden) ist typisch für diesen Bereich – und für Diagnostik und Therapie eine Herausforderung. Ein Zuspit­zen auf lineare Kausalketten scheitert an unserem unordentlichen, vielfachen Einflüssen ausgesetzten Leben. Ein symptomatisches Verringern des Muskeltonus kann auf vielerlei Weise unterstützt werden, vom Wärmen über die Massage bis zur Traktion – auch lokale Salben­einreibung bzw. Franzbranntwein ist eine Opti­on, von Physiotherapie und/oder Manualmedizin ganz zu schweigen. Wenn man sowohl in der Kommunikation als auch im Behandlungskonzept den großteils symptomati­schen Charakter nicht aus dem Auge verliert, ist das in Ord­nung. Stellt man diese Beeinflussung eines Sym­ptoms in der Mittelpunkt, ist der Ansatz fragwürdiger.

Je älter der Patient ist, desto eher muß man von der kausalen auf die symptomatische Ebene gehen, desto mehr spielen die vielen hier angekommenen Störungen anamnestisch eine Rolle. Aber schon bei Jüngeren sind immer wieder Phasen zu überbrücken. Das kann ein Zustand nach Un­fall sein, Fehlbelastungen oder (s.o.) eine laufen­de KFO- Be­handlung. Wachs­tums- und Entwicklungsschübe kommen als Irritationsfaktor dazu. Holz­schnitt­artig vereinfacht kann man sagen, daß die Nackenverspannung mit zunehmendem Lebensalter eine vermehrte Chronizität wahrscheinlicher macht. Um so wichtiger ist, die Patienten aktiv in die Behandlung einzubeziehen.

Wärme als unspezifische Basis ist nur kontraindiziert bei floriden Entzündungen. Reduktion des Muskel­tonus bei ‚verspannten‘ Muskeln ist schon differenzierter zu betrachten. Dieser ‚Erforder­nis- Hy­pertonus‘5 sollte bei den Behandlungen in Auge behalten werden. Z.B. ruft eine Gelenkirritation oft eine Schutzverspannung der zuge­ordneten Mus­kulatur her­vor. Wenn man versucht, diese zu vermind­ern, ohne an die strukturellen Ursachen zu den­ken, wird der Erfolg bestenfalls kurzfristig sein, schlimms­tenfalls kontraproduktiv. Kommt man nun zu dem Schluß, dass die Ursa­che dieses Muskel­hartspanns zu­mindest zeitweise unver­meidlich ist, ist eine dosierte Tonusverminderung durchaus sinnvoll.

Die Betonung liegt dabei auf dosiert. Bei der Frage, wie man dies möglichst schonend erreicht, ist die Er­kenntnis zentral, dass ein axialer Zug meist am physiologischsten ist. Rotation und Neigung, v.a. am Hals, sind fehler­trächtiger und meist auch für das Ziel der Spannuungsreduktion weniger effektiv.

Dosierung und Behandlungsrichtung wichtig

Etliche der vorgeschlagenen Mittel wirken eher quer zur Achse ein, was wenig effektiv ist. Natürlich hat auch ein Querdruck auf die kurzen Nackenmuskeln ei­ne reflektorische Entspannung zur Folge, wenn man ihn wieder weg­nimmt, aber ein Vektor in Richtung der Körperachse ist gezielter und damit wirksamer. Der Nacken liefert bei Kreuzschmerzen – vor allem bei Erwachsenen – einen nicht zu unter­schätzenden Bei­trag6. Nach Jahrzehnten der Be­treuung dieser Patien­ten kann festgehalten werden, daß das Angehen der verspannten Nackenregion nützlich sein kann. Der ‚Nach­teil‘ die­ses Konzepts ist, daß sich da keine kranke Bandschei­be, kein entzündeter Muskel nachweisen läßt. Bildge­bende Verfahren sind hier wenig hilf­reich, aber in Einzelfällen durchaus wichtig. Der Na­cken ist nur ver­spannt und schmerzempfindlich, das läßt sich auf Röntgen oder MRI kaum nachweisen. Ei­ne untersu­chende Hand findet es schnell….Bei dem hier gezeigten ‚Nexus-Einsatz‘ hat der Patient hier ein Kissen untergelegt, um dadurch den vorliegenden Rundrücken auszugleichen. 

Die gewählte Behandlungstechnik, gerade in dieser zu Chronizität neigenden Struktur, sollte möglichst risiko­arm sein. Schon im Hinblick auf das Irritationspotential der A. Vertebralis7 ist Vorsicht gebo­ten, auch Dysharmonien der segmentalen Biomechanik – die ja häufig eine der Hauptquellen der Nackenver­spannung sind – sollten zu Zurückhaltung mahnen, zumal das „viel hilft viel“ gerade hier wenig sinnvoll ist. Axia­le Traktion hat sich als die risikoärmste Methode bewährt, sei es in einer Behandlung durch eine Therapeu­tin oder instrumentell.

Es ist faszinierend zu sehen, wie man beim Studium älterer Veröffentlichungen nachvollziehen kann, daß der gemeinsame Erkenntnisprozess zu meist immer sparsamerer Verwen­dung der eingesetzten Mittel geführt hat. Ver­gleicht man durchaus seriöse Konzepte von früher mit den heute vermittelten Behandlungsme­thoden, wird das immer wieder deutlich  Dies ist konkretes Beispiel, wie die theoretische Durchdrin­gung der Pathophysiologie und das darauf folgende bessere Verständnis für die zugrunde­liegend­en Vor­gänge Konsequenzen für eine gezieltere und dadurch weni­ger ‚heftige‘ The­rapie hat. Es sollte uns Mahnung sein, auch die aktuellen Konzepte als optimierbar wahrzunehm­en. Das Bessere ist eben der Feind des Guten…

Eine Aufbiß­schiene8 wirkt ähnlich auf den ventralen Zügel der Kopf-Haltemuskulatur, wie eine okzipitale Trakti­on im dorsalen Anteil. Beide Male ist es meist eine sympto­matische Therapie, die am Beschwerden vermitteln­den Muskel ansetzt, und nicht an den dahinterliegenden Problemen. Wo man therapeutisch primär arbeitet, ist neben dem Ergebnis der klinischen Untersuchung auch von der Vorgeschichte abhängig. Es spricht nichts dagegen, beide Konzepte miteinander zu verknüpfen, zumal, wenn alleiniges Einwirken auf nur einen Zügel – sei es dorsal oder ventral – nicht ausreichend war. Weder die dorsale Traktion, noch die Aufbiß­schiene schaffen irreversible Fakten. Wenn’s nicht klappt, läßt man’s eben, und muß eine andere Lösung suchen.

Die nuchale Muskelverspannung ist weder hinsichtlich ihrer Ursachen, noch im Bezug auf die durch sie ausgelösten Beschwerden sehr aussagekräftig, sie hat wenig diagnostische Relevanz, aber viel therapeutisches Poten­tial. Hier kommt einfach vieles zusammen, um es etwas salopp zu formulieren9. Die allgemeinen Lebensum­stände – viel sitzen, viel in Vorbeuge die dorsalen Muskelketten belasten führen eher zu tagsüber zunehmenden Be­schwerden, während der temporo- mandibuläre Zügel in der Ruhe- und Traumphase nachts mehr in den Fo­cus gerät. So ist es fast ein differenzialdiagnostischer Hin­weis, wenn Schmerzen und Verspannungen vor al­lem morgens beim Aufstehen berichtet werden. Dann steht der Zahn/Kieferbereich in der Regel im Vorder­grund10, wobei man auch immer vor dem Bauchschafen11 warnen sollte. Belastungsabhängige Be­schwerden tagsüber lassen eher weniger an diese Re­gion denken. In beiden Fällen werden übrigens von den Patienten meist die Nackenschmerzen als Beschwerdezone hervorgeho­ben12.

Findet man in der Anamnese und bei der Untersuchung Anhaltspunkte für Bezüge zu dieser Re­gion, ist die Untersu­chung und Behandlung des nuchalen Muskelhart­spanns rele­vanter Teil eines physikalischen Therapie­konzeptes etlicher Beschwerdebilder unterschiedlicher Genese. Oft wird man hierbei wenig nosologi­sche Information, aber um so mehr Behandlungseffizienz gewinnen. Die Arbeit in der Körperachse (ma­nuell oder mittels Traktionskissen4) sollte als risikoloseste Option Mittel der Wahl sein. Mit zunehmendem Lebensalter wird die Risikoabwägung des Behandlungskonzeptes immer wichtigen.

,The proof is in the pudding’ sagen die Engländer; auf unsere Pro­blematik übertragen heißt das, daß sich ei­ne Redukti­on der nuchalen Hypertonie als unschwer realisierbare Option anbietet, aber auf ihren Erfolg hin über­prüft werden sollte. Man sollte sich immer bewußt sein, daß man hier in der Regel symptomatisch behandelt. Sie ist selten die strukturelle Lösung, oft aber eine Hilfe bei ganz unterschiedlichen Problem­feldern. Und letzt­lich ein Möglichkeit, den Pa­tienten aktiv in die Behandlung einzubeziehen, indem man ihm Hilfen in die Hand gibt, um sie so zur Mitarbeit zu motivieren.

Literatur:

1. K. Lewit. Funktionelle Röntgendiagnostik der Wirbelsäule, eine Frage der Interpretation. ws 28, (1964).

2. Biedermann, H. Manual Therapy in Children. (Churchill & Livingston, Edinburgh, 2004).

3. Claes, D. Shared Passion | Mercatorfonds. https://mercatorfonds.be/en/product/shared-passion (2023).

4. Biedermann, H. Nexus. https://www.panabo.de.

5. G. Gutmann. Die Halswirbelsäule: Allgemeine Funktionelle Pathologie und klinische Syndrome. vol. 1/2 (Fischer, Stuttgart, 1983).

6. H. Biedermann. The Cervico- Lumbar Syndrome. in Back Pain An International Review (eds. John K. Paterson & Loic Burn) 292–299 (Kluwer Academic Publishers, Dordrecht Boston London, 1990).

7. Hajnovič, Ľ., Šefránek, V. & Schütz, L. Trauma of the extracranial cerebral arteries due to injuries of the cervical spine. Rozhl. V Chir. Mesicnik Ceskoslovenske Chir. Spolecnosti 97, 504–508 (2018).

8. van Sluijs, R., Lukic, N. & Ettlin, D. A. Bruxismus : Wie gefährlich ist das Zähneknirschen? Allg. 4–6 (2020) doi:10.5167/uzh-190646.

9. Reinhardt, B. Homo erectus: Die Last der Aufrichtung. in Orthopädische Rückenschule Interdisziplinär (eds. Höfling, S. & Kaisser, P.-J.) 9–15 (Springer, Berlin, Heidelberg, 1992).

10. Imhoff, B. Kraniomandibuläre Dysfunktion und Nackenverspannung. Freie Zahnarzt 65, 88–91 (2021).

11. Douglas, J. A. et al. Guidelines for Sleep Studies in Adults – a Position Statement of the Australasian Sleep Association. Sleep Med. 36 Suppl 1, S2–S22 (2017).

12. Kares, H., Schindler, H. & Schöttl, R. Der etwas andere Kopf- und Gesichtsschmerz: Craniomandibuläre Dysfunktionen CMD. (Schlütersche, 2008).

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